Franz Siegbert Unikower
Beatrice Vierneisel: Franz Siegbert Unikower. Ein Porträt.
In: Erinnerungszeichen. FRANZ SIEGBERT UNIKOWER. Hrsg. Förderverein der Mahn- und Gedenkstätten Wöbbelin e.V. o.D. [2011], ISBN 978-3-934411-55-5
Der Jurist Dr. Franz Siegbert Unikower (1901 – 1997) war in seiner Heimatstadt Breslau ein aktiver Strafverteidiger auch in politischen Prozessen, als ihm 1933 die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen wurde. Bis 1939 konnte er sich als Rechtsberater für Emigranten in ihren Devisen- und Vermögensangelegenheiten betätigen, bevor er selbst 1939 für einige Wochen in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert wurde. Anschließend war er bis 1943 Zwangsarbeiter in Breslau, kam 1943 im Rahmen der sog. Fabrik-Aktion des Reichssicherheits-Hauptamtes in das Arbeitslager Auschwitz-Monowitz; seine als Krankenschwester eingesetzte Ehefrau Charlotte starb nur wenige Monate später an Typhus. Endpunkt seines Todesmarsches aus Auschwitz wurde das unfertige Konzentrationslager Wöbbelin bei Ludwigslust.
In der ersten Zeit in Mecklenburg-Vorpommern erfüllte Franz Siegbert Unikower alle gewünschten Voraussetzungen, die die Sowjetische Besatzungsmacht nur wünschen konnte: Volljurist, Sozialist, Antifaschist und voller Überzeugung, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitarbeiten zu können, und sie machten ihn zum obersten Juristen des Landes. Er, der mit seiner Meinung selten hinter dem Berg hielt, hatte bald kritische Einwände gegen die Entwicklung, doch es dauerte, bis er für sich selbst keine Möglichkeiten mehr des Wirkens in der DDR sah und er Ende 1956 über Westberlin nach Frankfurt am Main übersiedelte.
Franz Siegbert Unikower gehört zu den Personen der geteilten deutschen Nachkriegsgeschichte, die zwischen allen Stühlen saßen. Unangepasst in der DDR wie in der BRD war er über Jahrzehnte vergessen, sein Leben ist bis heute immer noch weitgehend unbekannt. Sein exemplarisches deutsch-deutsches Schicksal jedoch verdient unsere Aufmerksamkeit.
Gedenkblatt für Charlotte Unikower in Yad Vashem |
11. Mai 1901 |
Geburt in Breslau; Vater Gustav (1872-1935) war Schneider, die Mutter Jenny, geb. Cohn (1877-1926) Hausfrau; 1907 Geburt des Bruders Heinz |
1907 bis 1918 |
Besuch des Realgymnasiums am Zwinger, Not-Abitur |
Juni bis Nov. 1918 | Kriegseinsatz als Landsturmmann |
1919 bis 1922 | Studium an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen an der Universität Breslau, Dissertation Dezember 1922: „Das Delikt § 327 Str.-Ges.-B.“ (Seuchengesetz); Referendar an Gerichten in Oels und Breslau |
1921 bis 1933 | SPD-Mitglied; Vereinigung sozialistischer Juristen; vielfältiges politisches Engagement in der Sozialistischen Arbeiterjugend und Gewerkschaftsorganisationen |
15. Okt. 1926 | Geburt der Tochter Eva |
März 1927 | Justizministerium Berlin, Assessor-Examen |
1. März 1928 | Niederlassung als Rechtsanwalt in Breslau, zugelassen am Land- und Amtsgericht; Wgh. Gräbschner Str. 4 |
1931 | Ehe mit der Schauspielerin Helene Nowak |
1933 | Entzug der Zulassung als Rechtsanwalt; als Rechtsberater tätig, u.a. für Devisen-Angelegenheiten und Verwaltung ausländischen Vermögens; Wohnung in der Tauentzienstr. 12, einem Haus der Jüdischen Synagogengemeinde |
1934 | der Bruder Heinz emigriert über die USA nach Israel |
11. Nov. 1938–6. Jan. 1939 |
Häftling im KZ Buchenwald, erhält die Nummer 23.001; einvernehmliche Scheidung von seiner Ehefrau Helene |
1938 | Tochter und deren Mutter emigrieren nach Frankreich, von wo die Mutter nach Auschwitz deportiert wurde und umgekommen ist, die Tochter hat überlebt und wohnte nach 1945 in Toulon |
1939 bis Anfang 1940 | als Vertreter tätig |
1940 bis Sommer 1941 | Zwangsarbeiter der städtischen Müllabfuhr Breslau |
Sommer 1941 bis Febr. 1943 | erst als Hilfsarbeiter, dann als Maschinenarbeiter bei der Fahrzeug und Motorenwerke (FAMO) GmbH, Breslau, tätig |
Jan. 1942 | Ehe mit der Krankenschwester Charlotte Bremer |
27./28. Febr. 1943 | im Rahmen der sog. Fabrik-Aktion des Reichssicherheitshauptamtes mit seiner Frau festgenommen, Sammelstelle war der Hof der alten Synagoge in der Wallstraße |
5. März 1943 | Transport und Ankunft von 1405 Juden aus Breslau in Auschwitz; erhält die Nummer 107132, Abzeichen roter Winkel im gelben Dreieck; Unikower gehört zu den 406 arbeitsfähigen Männern, die nach Monowitz überstellt werden; Transportarbeit auf dem Holzplatz |
April 1943 | seine in Auschwitz-Birkenau als Krankenschwester eingesetzte Frau Charlotte stirbt an Fleckfieber, 1977 legt er in Yad Vashem ein Gedenkblatt für sie an |
Herbst 1943 | Schreiber in Auschwitz-Monowitz, Abteilung II (politische Abt.) |
18. Jan. 1945 | Evakuierung des KZ Auschwitz, Todesmarsch zum Lagerkomplex Nordhausen, erhält dort die Nummer 107738 |
2. Febr. 1945 | Ankunft im Nebenlager Boelcke-Kaserne |
6. Febr. 1945 | Überstellung in das Hauptlager Mittelbau-Dora als Schreiber in der politischen Abteilung |
5. April 1945 | Evakuierung mit dem letzten Transport aus Dora |
14. April 1945 | Ankunft im KZ Ravensbrück, Unterbringung im nahe gelegenen Jugendlager Uckermarck |
24. April 1945 | Ankunft im Lager Wöbbelin bei Ludwigslust (Mecklenburg) |
2. Mai 1945 |
Weitermarsch unter SS-Bewachung Richtung Schwerin; Unikower und andere Auschwitzer Kameraden konnten sich absetzen und erreichten den Ort Rastow, wo sie unterkamen Am gleichen Tag Befreiung des Lagers Wöbbelin durch die 82. US-Luftlandedivision |
8. Mai 1945 | in Rastow nimmt die US-Besatzung Quartier in Hufe 7, dem Haus des Bürgermeisters |
Juni 1945 | die Britische Besatzungsmacht übernimmt West-Mecklenburg |
Juli 1945 | die Sowjetische Besatzungsmacht übernimmt ganz Mecklenburg-Vorpommern, einer der Lagerkameraden wird kurzzeitig als neuer Bürgermeister eingesetzt |
Aug. 1945 | Unikower bewirbt sich für den Justizdienst |
25. Sept. 1945 bis Nov. 1946 | von der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) als Präsident des Oberlandesgerichts Schwerin eingesetzt |
1945/46 |
Mitglied SPD/SED |
30. Sept. 1945 | Autounfall und wieder Ausbruch der Tuberkulose und wochenlanger Aufenthalt im Krankenhaus; Ausweis Opfer des Faschismus (OdF) als „Kämpfer“ |
ab Febr. 1946 | Dozent in der Volksrichterausbildung |
Juli 1946 bis Ende 1956 | Wohnung in Schwerin, Lübecker Str. 184 |
1946 | Besuch seiner Tochter Eva in Berlin und Schwerin, vermittelt über die französische Militäradministration |
Sommer 1946 | Beginn der Richtertätigkeit in NS-Strafverfahren |
2./3. Juli 1946 | Vors. Richter am Oberlandesgericht Schwerin im „Richter- und Ärzte-Prozess“ |
16. Aug. 1946 | Vors. Richter am Oberlandesgericht Schwerin im „Sachsenberg-Prozess“ |
Nov./Dez. 1946 bis Juni 1947 |
Haft von 8 ½ Monaten durch die Sowjetische Militäradministration; als „ voll rehabilitiert aus russischer Haft entlassen“ |
Sept. 1947 bis Jan. 1950 |
Hauptamtlicher Leiter der Volksrichterschule in Schwerin-Zippendorf; Senatspräsident |
7. Juni 1948 | Gründung der Jüdischen Landesgemeinde Schwerin, 1. Vors. bis zu seinem Weggang |
12. Febr. 1949 | Heirat mit der Witwe Ursula Bauer (*1918), Volksrichterin; Trauzeugen waren Generalstaatsanwalt Wilhelm Bick und Hugo Mehler sowie drei „Auschwitzer“ |
1950 | im erweiterten Vorstand der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) |
1. Sept. 1952 | Oberrichter mit der Wahrnehmung der Geschäfte als Vorsitzender eines Senats beim Bezirksgericht Schwerin |
Oktober 1952 | vom Amt beurlaubt |
22. Jan. 1953 | Beschluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zum Anlegen eines Gruppenvorgangs „Thora“ zu Unikower und sechs weiteren Mitgliedern der Jüdischen Landesgemeinde, Vorwurf des Zionismus und Agententätigkeit |
20. Febr. 1953 | nach eigenen Worten „aus dem Amt geschieden“ |
28. Okt. 1955 | Beschluss MfS zur Einstellung des Gruppenvorgangs |
Aug. 1956 | plant Reise nach Warschau als Mitglied des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK) zum Prozess gegen den SS-Arzt Carl Clauberg |
Sept. 1956 | Besuch seiner Tochter in Toulon |
28. Okt. 1956 | plötzliche Übersiedlung, noch ohne seine Frau, über das Auffanglager Berlin-Marienfelde, erhält Flüchtlingsausweis; vorübergehende Wohnadresse in Berlin |
15. Dez. 1956 |
Mitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt a. M.; nach einem Übergang im Wohnheim Gagernstr. 36 bezieht er eine Wohnung in der Gaußstr. 21 Wiedereintritt in die SPD |
1. Jan. 57 bis 30. Dez. 1960 |
Angestellter bei der United Restitution Organization (URO) |
27. Sept. 1957 |
stellt Entschädigungsantrag |
1958 |
Justitiar des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Hessen |
1959 bis 1965 |
Zeugenvernehmungen in Vorbereitung von NS-Prozessen in Frankfurt a. Main |
Dez. 1960 bis Jan. 1963 |
Vorstands-Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt a. Main |
29. Juli 1963 |
Erwerb eines Hauses und Umzug nach Langen-Oberlinden |
18. Aug. 1966 |
Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes zum 65. Geburtstag |
29. Sept. 1997 |
Tod in Langen |